Kinder entdecken die Natur: Auf dem Friedhof

Oase in der Stadt: Schulischer Biologieunterricht auf dem Friedhof? Warum nicht, denn gerade große, parkähnliche Friedhöfe bieten ungeahnte Naturerfahrungen. Foto: CMA
Dienstagmorgen, zehn Uhr. Die Sonne scheint auf den alten Friedhof. In der Ferne erschallt eine Vielzahl von Kinderstimmen eine ungewöhnliche Geräuschkulisse an diesem Ort. Der Anlass ist nicht etwa eine Beerdigung, sondern die Grundschullehrerin Petra Koerffer und die Jungen und Mädchen der Klasse 3b haben heute den Unterricht vom Klassenzimmer auf den Friedhof verlagert.
Die Kinder stellen viele Fragen zum Thema Sterben erzählt die Pädagogin, meist bleiben unsere Erklärungen aber sehr abstrakt. Hier draußen kann man im Wechsel der Jahreszeiten Vergleiche mit der Natur anstellen und den Kreislauf des Lebens beobachten. Hier blühen und verwelken Blumen, Bäume werden grün und werfen im Herbst ihr Laub wieder ab. Menschliches Werden und Vergehen wird den Kindern so verständlicher. Viele Kinder besuchen mit uns das erste Mal einen Friedhof, entweder weil ihre Eltern selbst nicht den Friedhof besuchen oder weil sie glauben, ihre Kinder vor solchen Themen schützen zu müssen. Dabei ist es sehr wichtig, dass die Kinder den Ort einmal sehen und in einer ruhigen und emotional weniger aufgeladenen Atmosphäre als bei einer Beerdigung erleben.
Kindern geht zunehmend das Wissen um traditionelle Bräuche verloren stellt die Lehrerin fest. Dabei steht nicht im Vordergrund, ob das Kind aus einer gläubigen Familie stammt oder nicht. Bräuche und Traditionen gehören einfach zum Allgemeinwissen und sind ein Kulturgut. Man muss ja auch nicht Buddhist sein, um über den Buddhismus Bescheid zu wissen.
Begleitet vom Friedhofsgärtner Olaf Brunner klärt sie Fragen wie die der achtjährigen Lina: Warum liegen Kränze auf dem Grab? Und was sind das für weiße Blumen? Dass immergrüne Pflanzen wie Eibe und Buchsbaum ebenso wie die rund gebundenen Trauerkränze an das ewige Leben im christlichen Sinne erinnern und die weiße Lilie als Symbol für Reinheit steht, weiß Petra Koerffer noch selbst. Bei manchen Fragen muss aber auch die Lehrerin passen und überlässt deren Beantwortung dem Friedhofsgärtner. Wieso wachsen da Stiefmütterchen? will ein weiteres Kind wissen. Olaf Brunner klärt auf: Stiefmütterchen blühen auch dann, wenn es für andere Pflanzen zu kalt ist, und außerdem erinnern die dreifarbigen Stiefmütterchen an die Dreifaltigkeit Gottes. Einige bewegen auch sehr praktische Fragen. Wer gräbt denn die ganzen Löcher für die Särge? will Hendrik wissen. Wenig später sehen er und seine Mitschüler zu, wie ein Friedhofsmitarbeiter mit der schmalen Schaufel des Minibaggers ein Grab aushebt.
Lebendiger Ort
Motorenbrummen, geschäftige Gärtner und Besucher mit Geräten für die Grabpflege, Wasserplätschern, Vogelgezwitscher: Der Friedhof ist kein so stiller Ort, wie man glauben mag, zumindest nicht an einem Wochentag. Die Sorge, andere Friedhofsbesucher zu stören, hat die Lehrerin daher nicht. Im Gegenteil. Die Kinder bringen einen natürlichen Respekt vor diesem Ort mit. Wir haben uns bei der Friedhofsverwaltung angemeldet und auch noch einmal kurzfristig abgeklärt, ob eine Beerdigung stattfindet. Da wollen wir natürlich nicht stören. Aber bisher haben wir hier nur positive Erfahrungen gemacht. Viele der älteren Leute finden es sogar schön, dass die Kinder hier sind. Die Pensionärin Irmgard Cremer, die das Grab ihres verstorbenen Ehemanns besucht, pflichtet ihr bei: An den Kindern sieht man, dass das Leben weitergeht. Meine Enkel kommen auch gerne mit zum Friedhof und helfen mir beim Pflanzen und Blumengießen. Außerdem haben wir dann immer ein paar Minuten ganz für uns, und ich habe Gelegenheit, ihnen von ihrem verstorbenen Opa zu erzählen, den sie kaum gekannt haben.
Grünes Refugium in der Stadt
Hohe alte Bäume, dichte Hecken, blühende Büsche und selbst in den schattigsten Winkeln üppig grüne Farne und Moose: Nicht nur die Grabbepflanzung selbst, sondern auch das vielfältige Grün zwischen den Grabfeldern schafft den Eindruck einer grünen Oase in der Stadt. Anders als bei anderen öffentlichen Grünflächen, die früher oder später von Verkehrsadern zerschnitten werden oder dem hohen Nutzungsdruck nicht standhalten, entwickelt sich der Pflanzenbestand auf Friedhöfen häufig weitgehend ungestört, und das über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Davon profitiert auch die Tierwelt. Vogelbestände sind auf Friedhöfen besonders artenreich, selbst seltene Bodenbrüter wie die Nachtigall oder der Zilpzalp - sonst nur im Wald anzutreffen - sind hier in dichten Gebüschen zu finden. Baumstämme, Laub und Blüten bieten Lebensraum und Nahrung für zahlreiche schwirrende und krabbelnde Insekten. Auf Mauerkronen wärmen sich Eidechsen in der Sonne, unter dem Laubhaufen raschelt es. Die Kinder überlegen. Ist das etwa ein Igel, der hier überwintert hat? Oder eine Maus auf Futtersuche? Der Friedhof ist ein idealer Ort für Naturbeobachtungen.
Friedhof als Forschungsstätte
Nicht nur Tod und Trauer, beispielsweise im Ethik- oder Religionsunterrichts, können auf dem Friedhof thematisiert werden. Ob im Biologieunterricht das Brutverhalten der Rotkehlchen oder die Systematik niederer Pflanzen veranschaulicht werden oder anhand der Betrachtung von Grabmalen im Geschichtsunterricht die Vergangenheit eines Ortes deutlich wird: Theorie wird hier begreifbar. Und ein positiver Nebeneffekt ist: Die Friedhofsverwaltungen machen die Erfahrung, dass Wissen um den Friedhof vor Vandalismus schützt. Jugendliche, die um die Bedeutung der Grabmale und Bepflanzungen wissen, zerstören sie nicht. Wer früh eine unverkrampfte und persönlich geprägte Beziehung zum Friedhof entwickelt, baut Vorurteile ab. Petra Koerffer nutzt mit ihrem Unterrichtskonzept die Chance, den Kindern ihre Ängste zu nehmen. Fledermäuse sind keine Vampire, sondern Tiere, die vom Aussterben bedroht sind, das weiß jetzt auch der neunjährige Marc. Und nimmt sich vor, auf das Grab seiner Oma bald deren Lieblingsblumen zu pflanzen. (Quelle: CMA)
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